27. April 2005
Lucas Sinn für seine eigene Mission kristallisierte sich in den Animationsstunden und in einem Kurs mit dem Titel "Filmischer Ausdruck" heraus, der sich auf die nicht-narrativen Aspekte des Filmemachens konzentrierte - und Geschichten ohne Worte durch den Einsatz von Licht, Raum, Bewegung und Farbe erzählte. Die Professoren zeigten Zeichentrickkurzfilme und Dokumentationen, die ihnen vom National Film Board of Canada zur Verfügung gestellt wurden, welches seit den 1940ern Forschungsarbeiten auf dem Feld der Cinematographie finanziert hatte.
Es waren vor allem die Werke dreier kanadischer Regisseure, die Lucas für das Potential, mit den Werkzeugen des Filmemachens zu experimentieren, begeisterten. Ein Zeichentrickfilmer namens Norman McLaren schuf mit jedem seiner Filme neue Arten, Bilder und Töne zu erzeugen. Er mischte menschliche Schauspieler, Zeichnungen und Spezialeffekte, genau wie Lucas es 20 Jahre später digital tun sollte. Außerdem beeindruckten Lucas die Dokumentarfilme von Claude Jutra, der die künstlerischen Strategien von Godard und Truffaut nutzte, um Geschichten aus dem wahren Leben zu erzählen. Einer der Gründe, weshalb der erste Krieg der Sterne-Film verglichen mit früheren Science-Fiction-Streifen so lebendig wirkte, so erklärt Lucas, war, dass er ihn wie eine Jutra-Dokumentation gedreht hatte, mit mehreren Kameras in jeder Szene und einer nur oberflächlichen Inszenierung, um eine spontane Note zu kreieren. (Ein weiterer Grund war die entspannte Sorglosigkeit von Harrison Ford und Carrie Fisher, die in paradiesischer Unwissenheit schwelgten, weil sie noch nicht wussten, dass sie eines Tages Actionfiguren sein würden.)
Der Film, der Lucas aber am tiefsten beeindruckte, war ein Kurzfilm mit dem Namen 21-87, gedreht von einem Regisseur namens Arthur Lipsett, der Filmmaterial, das andere weggeworfen hatten, in visuelle Lyrik verwandelte. Lipsett arbeitete als Schnittechniker am National Film Board und las weggeworfene Filmschnipsel aus Dokumentarfilmen auf, um sie mit Bildern von Trapezkünstlern und Modellen auf einer Modeschau und eigenem Material von sorgengeplagten Gesichtern auf den Straßen von New York und Montreal zusammenzuschneiden. Was Lucas am meisten beeindruckte, war Lipsetts revolutionärer Einsatz von Bild und Ton. Das Bild tanzender Jugendlicher wurde mit angestrengtem Atmen überlagert, als ob jemand sterben oder einen Orgasmus haben würde. Die Töne folgten den Bildern nicht, ignorierten sie aber auch nicht - sie rieben sich aneinander. Selbst ohne Handlung oder Figurenentwicklung beschwor 21-87 fein abgestufte Emotionen, von Kummer bis zu einer zähen Form von Hoffnung - und all das in weniger als 10 Minuten.
Lucas jagte den Film immer und immer wieder durch den Projektor und sah ihn sich über zwei Dutzend Male an. 2003 erzählte er den Regisseuren Amelia Does und Dennis Mohr, die einen Dokumentarfilm über Lipsett machten, "21-87 hatte eine sehr tiefgehende Wirkung auf mich. Das war genau die Sache, die ich machen sollte. Ich wurde von diesem Film extrem beEinflusst". Lucas beschloss, dass es sein Schicksal war, am Schnitt von Dokumentarfilmen zu arbeiten und, wie Lipsett, nebenbei avantgardistische Filme zu machen. Regelmäßig arbeitete er mehr als 12 Stunden am Stück im Schneideraum der Universität und ernährte sich, völlig vertieft in seine Arbeit, nur von Coca-Cola und Schokoriegeln.
"Als George 21-87 sah, ging ihm ein Licht auf.", sagt Walter Murch, der die vielschichtigen Tonwelten von THX-1138 schuf und mit Lucas an American Graffiti arbeite. "Was wir in THX machen wollten, war ein Film, bei dem Bild und Ton freischwebend in der Luft hingen. Manchmal sollten sie sich aneinander ausrichten, aber es sollte auch lange Augenblicke geben, in denen die beiden unabhängig voneinander agieren sollten und der Zuschauer sein Gehirn anstrengen musste, um die Verbindungslinien zu erkennen."
Um mit ihrem Drei-Groschen-Budget für THX eine realistische Zukunftsgesellschaft zu simulieren, trieben Lucas und Murch die audiovisuelle Zusammenhanglosigkeit so weit sie konnten. Eine Szene, in der der Held (gespielt von einem jungen Robert Duvall) gefoltert wird, wird durch die banale Fachsimpelei der unsichtbaren Folterknechte noch entsetzlicher gemacht. Das Geschwätz der identitätslosen Stimmen im ganzen Film unterstützt den Gedanken, dass man in einer Welt totaler Überwachung niemals allein ist.
"Walter und ich arbeiteten gleichzeitig, ich konnte den Schnitt also auf seine Töne und seine Arbeit abstimmen.", sagt Lucas. "Wir inspirierten einander bei unserer Arbeit, anstatt einfach nur Bilder zu drehen und Töne daran anzupassen. Seitdem habe ich immer so gearbeitet." Während er das erste Krieg der Sterne-Drehbuch schrieb, heuerte Lucas Ben Burtt an, einen Studenten an der Universität von Südkalifornien, um die Imperialen Sternzerstörer durch Beimischung des unterschwelligen Donnerns einer Klimaanlage unheimlicher klingen zu lassen; unter Boba Fetts erstmaligen Auftritt in Das Imperium schlägt zurück wurde ein kaum wahrnehmbares Klirren von Sporen gemischt.
Lucas traf den jungen Kanadier, der ihn so beEinflusst hatte, nie; Lipsett beging 1986 Selbstmord, nachdem er jahrelang gegen Armut und Geistesgestörtheit angekämpft hatte. Aber wie ein Programmierer, der Tolkien-Zitate in seinen Programmkode schmuggelt, hat Lucas geheime Verweise auf 21-87 in seinen Filmen untergebracht. Die Geschichte seiner Studentenfilmversion von THX ereignete sich im Jahr 2187, und der numerische Titel selbst war eine Homage. In der Langfassung des Films flieht Duvalls Figur aus der unterirdischen Stadt, als er erfährt, dass die Liebe seines Lebens am Tag "21/87" von den Behörden ermordet worden ist. Und in Krieg der Sterne entdecken Luke und Han Solo, als sie in den Gefangenblock eindringen, um Prinzessin Leia zu retten, dass diese von den Sturmtruppen in Zelle 2187 festgehalten wird.
Das Kaninchenloch ist noch tiefer: eine der Audioquellen, die Lipsett für 21-87 verwendete, war eine Unterhaltung zwischen Warren S. McCulloch, einem Pionier auf dem Feld der künstlichen Intelligenz und Roman Kroitor, einem Filmemacher, der eines Tages zum Erfinder des IMAX-Formats werden sollte. Angesichts von McCullochs Argument, dass lebende Wesen nichts anderes seien als hochkomplexe Maschinen, beharrt Kroitor darauf, dass es mehr gäbe:
"Viele Menschen fühlen dies, wenn sie die Natur betrachten und mit anderen Lebewesen kommunizieren. Sie werden hinter dieser sichtbaren Maske, die wir vor uns sehen, einer Art Kraft (Force) gewahr, oder etwas ähnlichem, und sie nennen diese Gott."
Danach befragt, ob dies der Ursprung der "Macht" sei, bestätigt Lucas, dass seine Verwendung des Begriffs in Krieg der Sterne "ein Echo dieses Satzes in 21-87" war. Die Idee dahinter sei allerdings universal: "Ähnliche Sätze sind von vielen verschiedenen Menschen seit 13000 Jahren verwendet worden, um "die Lebenskraft" zu bezeichnen.", sagt er.